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Kurzgeschichten

Atem aus Kälte

Seine Seele brannte, Tag für Tag. Doch er sprach mit niemandem darüber. Die anderen Magier berechneten die Planetenbahnen, um im Licht der Gestirne komplizierte Formeln zu wispern. Sie spürten die Kraft nicht wie er.

Als Keiht auf den höchsten Turm des Palastes stieg und sich dort in die Arme des Sturms warf, hörte er das innere Knistern erneut. Es vibrierte in seiner Brust, ließ seinen Körper zittern, wollte hinaus. Mit geschlossenen Augen glaubte er sogar, er könne es mit Gedankenfingern berühren. Doch das innere Feuer fauchte, zischte und wand sich davon, sobald er es zu packen versuchte. Genau wie jedes Mal.

Keiht biss die Zähne zusammen und legte beide Hände auf die Balustrade. Stein wuchs an seine Finger. Seine Füße verschmolzen mit dem Boden. Er fühlte den gesamten Turm unter sich. Sein Herzschlag erschütterte den Grund. Die Flammen tobten und stemmten sich gegen die unsichtbaren Hände der Magie, bis sein Blut kochte.

Dann verschränkten sich die Finger ineinander. Einen Moment lang hielt Keiht ihn, einen kleinen Teil der Kraft – und er riss ihn heraus. Er schoss durch seine Adern, bahnte sich einen Weg durch sein Gewebe, explodierte in seinem Kopf und erdrückte den Sturm in der Luft. Das war der Moment, in dem er der größte Magier aller Zeiten wurde.

 

Keiht schlug die Augen auf. Steinsplitter regneten auf ihn herunter. Die Trümmer der Turmspitze trieben auf unsichtbaren Wogen zur Königsstadt hinab. Staub kratzte in seinem Hals, Tränen brannten in seinen Augen und sein Speichel schmeckte bitter vor Galle und Blut. Wo einmal festes Mauerwerk gewesen war, klaffte ein breiter Abgrund über den Resten einer Wendeltreppe.

Keiht schluckte. Mühsam löste er die verkrampften Finger von der Balustrade. Das Geländer war an der Stelle, wo er es gehalten hatte, intakt und ragte verloren inmitten der Verwüstung auf. Von plötzlichem Schwindel erfasst wankte er in Richtung Treppe. Die Kälte des Windes prickelte wie noch nie auf seiner Haut. Stufe für Stufe quälte er sich in die Tiefe. Solange, bis die Kollegen vor ihm waren. Sie stürmten heran, packten ihn, brüllten auf ihn ein. Sein Zustand – ein Resultat der Katastrophe, ja. Ein Schock. Wer konnte sich erklären, was hier passiert war? Er nicht, nein. Keiht ließ sich von einem kräftigen Paar Arme weiterziehen, bis die Welt endgültig vor seinen Augen zerfaserte und er durch eine weiße Wüste der Leere glitt.

 

Keiht blinzelte sich in Meisterin Lohneds Krankenzimmer wach. Die ältere Frau hatte ihr ganzes Leben als Heilerin gefristet. Tagein, tagaus in ihrem Kämmerlein ohne bemerkenswerten Erfolg. Keiht hatte sie nie verstanden.

Jetzt beugte sich Lohned mit besorgter Miene über ihn. „Habt Ihr Fieber?“

„Ich habe Schmerzen. Hier.“ Keiht legte die Hand auf seine Brust. Zum ersten Mal fror er über seinem Herzen.

„Aber die Trümmer haben Euch nicht erwischt. Wie habt Ihr so schnell einen Schutzzauber erschaffen?“

Ihre Blicke trafen sich. Mit zitternder Hand zog Keiht die Überreste einiger vertrockneter Zweige aus einer Manteltasche und zeigte sie Lohned. „Immer vorbereitet“, sagte er lahm.

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn es Euch damit gelungen ist, seid Ihr ein Genie.“

„Sagt das noch einmal vor dem Rat und ich bin Euch sehr verbunden.“ Keiht zwang seine Mundwinkel in die Höhe, doch sie sackten schnell wieder herab. Auch Lohned lachte nicht.

„Vielleicht werde ich das tun.“ Sie wandte sich von Keiht ab und schlurfte zu einem Bücherregal. „Geht. Ihr seid gesund.“

Ihre Worte klangen so absurd wie der leere Raum in seiner Brust. Trotzdem nickte er und erhob sich. Kein Schwindel mehr. Nur Kälte.

 

Er war ein Wunder. Das sagten sie Keiht immer wieder in den nächsten Tagen. Dabei wussten sie nichts. Sie schwirrten um ihn herum, stellten Fragen, die er nicht beantworten konnte, und priesen sein schnelles Reaktionsvermögen und Geschick. Auch ohne Lohneds Fürsprache verlieh ihm der Rat einen höheren Rang. Sein neues Arbeitszimmer war doppelt so groß wie das alte. Er schaffte einen Sessel hinein, kauerte sich ins Polster und starrte in die Flammen des Kaminfeuers, wann immer er die Zeit dafür fand. Denn im Licht tanzten Schemen. Seine Finger kribbelten, während ein handtellergroßer Drache aus dem Feuer kroch, einen lautlosen Marterschrei ausstieß und zu Asche zerfiel. Sein Hals kratzte, als ein glühender Falter gegen die Fensterscheibe schlug und dort erlosch. Sein Magen schmerzte, als ein Salamander sein Bein hinaufkrabbelte und seine Haut verkohlte.

Einmal, als er in der Nacht aufwachte, war das Kaminfeuer erloschen und Schatten tanzten um sein Bett. Keiht blinzelte und rieb sich die Stirn. Die Gestalten verharrten, doch sie verschwanden nicht, sondern starrten ihn aus roten Augen an, sodass er keinen Schlaf mehr fand. Zitternd lag er in seinen Kissen, während die Stunden verstrichen. Dann fuhr er in die Höhe, übergab sich und schleuderte ihnen Flüche und Schimpfwörter entgegen. Daraufhin wirbelten sie davon und sein Zimmer schien wieder leer.

Am nächsten Morgen war ihm kalt, sodass er eine Kiste mit Kerzen holte und sie überall aufstellte, wo er einen freien Platz fand: auf Schreibtisch und Regalbrettern. Die Bücher räumte er in einen Schrank und ertappte sich bei dem Gedanken, wie gut sie brennen würden. Keiht schüttelte den Kopf, schürte den Kamin mit frischen Scheiten an und wanderte rastlos auf den Dielen umher, während aus dem Feuer Gesichter zu ihm aufblickten. Sie lachten und schrien – doch glücklich waren sie nie.

Bei Vollmond berechnete Keiht einen Zauber, wie er es früher getan hatte. Er malte einen Kreis auf den Boden, kritzelte mit bebender Hand die Symbole hinein und flüsterte die Formeln: simple Magie, um ihm Wärme zu spenden. Falls es funktionierte, so spürte er nichts davon. In seinem Geist wanderte er durch eine Einöde aus Schnee und der eisige Sturm toste Tag für Tag stärker. Als Keiht begann, Dampf auszuatmen, wusste er, er war verloren.

 

Lohned saß auf einem Stuhl neben ihm. Ihre Lippen waren schmal. Keiht lag in einem Bett in ihrem Krankenzimmer und erinnerte sich nicht, hierher gekommen zu sein.

„Ihr habt geschrien. Im Schlaf“, sagte die alte Meisterin.

Seltsam. Dabei träumte er nicht mehr.

Keiht stemmte sich in die Höhe und ein Windstoß riss ihm die Decke weg. Seine Finger schnappten noch rechtzeitig einen Zipfel. Dann ging der Stoff in schwarze Flammen auf.

Lohned sprang auf, doch das Feuer war schon wieder erloschen. „Was ...?“

Keiht konnte nur mit den Schultern zucken.

Die Meisterin schüttelte den Kopf, musterte ihn noch einen Augenblick lang, bevor sie ihm eine dampfende Tasse reichte. „Verbrüht Euch nicht.“

Keiht nahm das Getränk und kippte es auf einmal hinunter. Aber er schmeckte nichts. Weder Schmerz noch Wärme. Vor seinen Augen füllte sich die Tasse aus dem Nichts erneut und Keiht trank sie ein zweites Mal aus. Vielleicht war es Tee. Als er sich wieder Lohned zuwandte, flackerte etwas in ihren Augen. Vielleicht Entsetzen. Also stellte er die Tasse ab. Auch als er sie nicht mehr berührte, rutschte sie weiter über den Tisch in Richtung der Meisterin. Bitter sah er zum Kamin. Funken sprangen über die Holzscheite und entzündeten ein Feuer. Die Dochte der Kerzen spuckten Licht und die Tür zum Nebenzimmer fiel mit einem Knall ins Schloss.

Lohned sprang auf. „Das ist ein Wunder! Ihr seid ein Genie!“

 

Seit er die Magie auf dem Turm entdeckt hatte, fror er ohne Unterlass, aber vielleicht war das alles doch nicht so schlecht. Man hatte Keiht eine Weile nicht mehr außerhalb seines Arbeitszimmers gesehen. Jetzt schritt er in einem roten Mantel durch die Flure des Palastes und sie nannten ihn „Hochmeister“. Also war er wohl am Ziel seiner Wünsche.

Als erste Amtshandlung stieg er auf den zerstörten Turm. Dort verharrte er eine Weile und atmete Kälte, die Blicke der Meister im Rücken. Dann hob er die Hand und die Turmspitze wuchs wieder in die Höhe. Ein Befehl brachte den ewigen Sturm zum Schweigen und es war zum ersten Mal windstill. Die anderen Magier huldigten seinen Fähigkeiten und rannten durch den Palast, um von ihnen zu erzählen. Keiht verharrte allein vor der neuen Balustrade und blickte über die weite Königstadt. Erst bei Einbruch der Dunkelheit kehrte er in seine neuen Gemächer zurück. Dort ließ er noch mehr Kerzen und Kohlebecken aufstellen, aber die verlorene Wärme kehrte nicht zurück. Er kauerte zwischen Feuer und Glut und rieb sich die Hände, bis seine Haut gerötet war. Dann schleppte er sich zu seinem Sessel, sank hinein und schloss die Augen. Schlaf fand er keinen. Nicht einmal die Schatten besuchten ihn.

Dass er zitternd und fröstelnd umherhastete, sprach niemand an, doch hinter seinem Rücken flüsterten sie. Ihre Blicke folgten ihm stetig, bis er nicht mehr wusste, welche Augen zu welchem Magier gehörten und wie viele Stimmen sie besaßen.

Die verstreichende Zeit empfand er nicht. Sie zog an ihm vorbei und riss immer mehr Wärme mit sich fort, während er die Welt im Takt seiner Herzschläge veränderte.

 

Nach zwei Jahren fluteten neue Schüler den Palast, doch Keiht konnte ihnen nichts beibringen. Er zog Türme in die Höhe und sie stießen noch weiter in den Himmel als die alten und warfen lange Schatten auf die Stadt.

Nach drei Jahren glaubte er, er könnte die Kälte nicht mehr ertragen. Er schrie, bis das letzte bisschen Zorn aus ihm wich und seine Gemächer in Flammen standen. Das brennende Zimmer schien ihm eine willkommene Wohltat. Feuer strich über seine Haut, doch er spürte kaum Schmerz und keine Hitze. Er wartete, bis seine Kleider zu Asche verbrannt waren und die Dachbalken auf ihn herabbrachen und er dachte, vielleicht würde er sterben. Keiht wartete ohne Wut und Trauer auf das Ende, aber dann kamen die Magier und löschten den Brand. Durch Rauch und Licht stürzten sie, schütteten Eimer aus und woben ihre Zauber. Meisterin Lohned packte Keiht am Arm und schleifte ihn hinaus. Keiht blickte zurück, bis der Feuerschein im Gewirr der Flure verschwand. Noch nicht einmal Enttäuschung konnte er fühlen.

 Sie bauten seine Gemächer wieder auf und Hochmeister Keiht zog wieder ein. Die Stimmen nannten ihn inzwischen wahnsinnig und das Gewirr aus Augen auf den Fluren wurde noch undurchdringlicher.

Nach fünf Jahren kam ein Krieg und der König selbst rutschte auf Knien durch Keihts Hallen, um ihn zu bitten, seine sagenumwobene Kraft zur Verteidigung des Reichs einzusetzen. Sein Gesicht war eingefallen, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und seine Stirn wurde von einer frischen Narbe zerteilt. Die Ratsmitglieder waren von diesem Anblick erschüttert und debattierten tagelang. Immer wieder fragten sie ihren Hochmeister, was zu tun sei, doch Keiht blieb stumm. Erst als der König um Feuer für die Feinde bat, verließ der Hochmeister den Palast durch das Tor, das er so lange gemieden hatte.

Als er durch die Straßen ritt, jubelten die Menschen und niemand störte sich daran, dass sein kalter Atem weiße Wolken vor ihm her trieb. Er sah in ihre lachenden Gesichter und fragte sich, wie sie das machten.

Auf dem Schlachtfeld angekommen führten sie ihn durch die Soldatenreihen an vorderste Front. Sieben seiner Magier eskortierten ihn. Keiht beobachtete den Feind und sah nur eine Masse aus grauen Metallplatten. Pfeile flogen in seine Richtung und der erste seiner Magier fiel, schreiend und Blut spuckend. Die verbliebenen sechs versuchten Abwehrzauber, murmelten, warfen Blätter in die Luft und vollführten eine Abfolge von Gesten. Eine Frau rechts von Keiht wurde niedergestreckt und er beschloss, der Bitte des Königs Folge zu leisten. Sie standen ihm im Weg, Soldaten und Magier, also räumte er sie beiseite und setzte den Himmel in Flammen. Glühende Gesteinsbrocken und Lava regneten auf das Feindesheer und die Luft füllte sich mit einem Chor des Todes. Keiht sah seine Aufgabe damit getan und kehrte allein in seinen Palast zurück.

Seine Füße trugen ihn durch eisige Flure, durch eine Masse aus Glückwünschen und Freudenschreien. Er schnitt sie mit der Tür hinter sich ab und setzte sich in seinen Sessel, wie er es immer tat, jede Stunde, die er hier war. Als er den Kamin anzünden wollte, sprangen nur Funken über die Holzscheite und erloschen bald.

Keiht schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Nur Kälte fand er dort. Seit einiger Zeit machte sie ihm nichts mehr aus. Er suchte nach dem Knistern, nach dem unsichtbaren Lodern der finsteren Kraft, die ihm seit jenem Tag am Turm gedient hatte, doch er fand sie nicht.

Vorbei. Verbraucht. Seine Seele brannte nicht mehr. Das war auch gar nicht mehr möglich. Denn sie war verschwunden. Er hatte sie herausgerissen. Stück für Stück.

 

„Hochmeister?“ Lohneds Stimme drang dumpf durch die Tür.

Seit Tagen hatte er sich eingesperrt, aß nichts, schlief nicht. Er atmete noch, deshalb stauben Schneeflocken durchs Zimmer und bedeckten den Boden immer dicker.

„Geh weg“, stieß Keiht hervor. Seine Stimme klang wie brechendes Eis. „Ich bin verloren.“

Einen Moment lang war es still vor der Tür. Dann räusperte sich die alte Frau. „Niemand ist verloren.“

Keiht schnaubte. „Doch. Jemand, der keine Seele mehr hat.“

„Warum glaubt Ihr, dass Ihr keine mehr besitzt?“

„Wegen der Kälte.“

Sie hätte gehen sollen, aber er hörte, wie etwas auf dem Holz schabte. Vermutlich ritzte sie eine Formel ein. Als Hochmeister müsste er sie schelten, aber er wusste nicht, was das bringen sollte, also tat er nichts. Als sie schließlich vor ihm stand, schimmerten ihre Augen und ihre runzlige Hand schwebte zitternd vor seinem Gesicht.

„Berühre mich nicht“, sagte Keiht. „Sonst wirst du erfrieren.“

Doch Lohned zögerte nicht. Ihre Finger senkten sich auf seine Wange. Sie hätten auch aus Stein sein können.

Ihr Gesichtsausdruck verriet nicht, ob die Kälte ihr Schmerzen bereitete. Sie lächelte sogar. „Ich bin nicht erfroren. Also muss irgendwo in dir noch ein Funke übrig sein.“

Keiht schüttelte ihre Berührung ab. Lange stand sie vor ihm, doch er sagte nichts mehr. Als hinter dem vereisten Fenster die Nacht einbrach, entfernten sich ihre Schritte. Keiht saß noch ein wenig im Sessel, sah zum kalten Kamin hin und kratzte den Frost von seiner Haut.

 

In den Morgenstunden gab es das letzte Feuer. Der Hochmeister hätte sich selbst in Flammen gesetzt. Dann sei er brennend aus einem Fenster gestürzt, hieß es. Einige Novizen wollten es gesehen haben.

Meisterin Lohned war die einzige Magierin, die sich in seine Gemächer traute, obwohl diese immer noch dicht unter einer funkelnden Eisschicht verborgen lagen. Von draußen trieb der Sommerwind einige Flocken kalter Asche herein.

Der Hochmeister blieb verschwunden und da niemand sein Geheimnis ergründet hatte, rechneten und zeichneten die Magier wieder wie früher, die Schüler kehrten scharenweise in ihre reichen Elternhäuser zurück und die Hallen des Palastes verstaubten in Bedeutungslosigkeit. Lohned wurde die neue Hochmeisterin und als sie dafür plädierte, Magie nur noch zur Heilung einzusetzen, liefen ihr sogar die altgedienten Magier davon.

Dabei war sie keineswegs die erste mit dieser Idee. Es gab Geschichten eines einsamen Magiers, der seit einiger Zeit durch das Land zog und sich um Kranke kümmerte. Angeblich nahm er nicht einmal Geld dafür. Ihm genügte, wie er sagte, nur ein wenig Wärme.

Erschienen 2019 in "Zwischen Licht und Dunkelheit"

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