Vorweg: Ich bin kein Profi. Eine Anfängerin aber auch nicht mehr. Und gerade weil mir die Schauspielkunst nicht gerade in die Wiege gelegt wurde, habe ich so viel bei Lesungen gelernt – unter anderem, dass es auch ohne Schauspieltalent vollkommen machbar ist, einen solchen Vortrag zu gestalten. Hier ein Erfahrungsbericht.

Einen selbstgeschriebenen Text zu lesen ist persönlich – viel persönlicher als Fachinhalte zu referieren. Denn in jedem Text steckt auf irgendeine Art und Weise die Haltung der Verfasser:in: Wer solche Inhalte publiziert, macht sich auf einer persönlichen Ebene angreifbar. Und wer diese dann auch noch höchstpersönlich vorträgt, umso mehr. Deswegen ist es vollkommen verständlich, dass sich viele Autor:innen scheuen, Lesungen abzuhalten. Meiner Erfahrung nach sind die Ängste jedoch in der Regel unbegründet. Ihr habt einen Text geschrieben und ich gehe davon aus, dass ihr hinter diesem auch steht – dann spricht nichts dagegen, ihn vorzutragen! Und wenn ihr euch auf die Lesung gut vorbereitet, kann wenig passieren. Und damit zu meinen Tipps.
Den richtigen Textausschnitt wählen
Lest nicht einfach irgendetwas. Lest einen Text, in den sich da Publikum gut hineinfindet. Meistens ist der Anfang einer Kurzgeschichte oder eines Romans gut geeignet (soweit dieser kein Prolog ist – der ist oft abstrakter und passt dadurch weniger). Es ist auch in Ordnung, Passagen zu streichen oder zu kurz zusammenzufassen, was sich ereignet, und dann an späterer Stelle weiterzulesen. Wichtig ist, dass ihr den Zuhörer:innen einen leicht zugänglichen, konsistenten und interessanten Ausschnitt bietet.
Langsam lesen
Das gilt immer. Intuitiv lesen wir alle zu schnell. Für die Zuhörer:innen ist es aber anstrengend, einen Text in diesem Tempo zu erfassen, zumal er dabei gerne mal monoton klingt. Der wichtigste Tipp beim Vorlesen ist also ohnehin: Lest langsamer! Noch langsamer! Es fühlt sich wirklich komisch an, sich selbst so zu drosseln, aber glaubt mir, es klingt für fremde Ohren viel besser!
Pausen machen
Gerade wenn man ein wenig nervös ist, hat man vielleicht das Bedürfnis, die Angelegenheit möglichst schnell durchzuziehen. Dabei ist das Langsamlesen natürlich nicht hilfreich, ebenso wenig wie mein nächster Tipp. Aber da müsst ihr trotzdem durch: Macht Pausen. Zwischen den Worten, Sätzen, Absätzen. Es ist überhaupt nicht komisch, wenn es mal still im Raum ist. Der Text muss bei den Zuhörer:innen sacken, muss sich entwickeln. Dabei helfen Pausen ungemein. Und sie tun auch euch gut, um euch kurz zu sammeln. Freilich sollten sie keine ewigen Unterbrechungen sein. Aber einfach mal zwischen den Zeilen durchatmen, ist wichtig.
Die Worte sich entwickeln lassen
Nicht nur wenn man zu schnell liest, verhaspelt man sich gerne. Auch Worte zur Hälfte zu verschlucken, tut einer Lesung nicht gut. Natürlich solltet ihr nicht damit anfangen, irgendwelche Endungen überzubetonen – eure Aussprache sollte weiterhin natürlich klingen! Aber man darf den Worten ruhig mehr Raum geben, als man das in einem Alltagsgespräch tun würde. Man darf sie bewusster lesen, mit all ihren Silben.
Mit Versprechern umgehen
Wenn man langsam und bewusst ließt, passieren viel weniger Versprecher. Natürlich können sie sich trotzdem in den Vortrag schleichen. Lasst euch davon nicht aus der Fassung bringen. Lest einfach weiter oder korrigiert gegebenfalls knapp, aber entschuldigt euch nicht dafür. Denn solche Entschuldigungen sind viel störendere Textunterbrechungen als der eigentliche Fehler. Deshalb behaltet sie lieber für euch.
Laut sein
Ich habe kein lautes Organ und im Alltag kann ich Gebrülle auch nicht leiden. Bei Lesungen ist es aber wichtig, das meiste aus der Stimme herauszuholen. Das wird mit Training natürlich besser, aber auch als Anfänger hilft es schon, sich darauf zu konzentrieren, eben nicht leise vor sich hinzunuscheln, sondern voll zu sprechen und zu versuchen, den Raum zu füllen. Am besten trinkt ihr vorher noch etwas – etwas ohne Kohlensäure, wenn ihr nicht wollt, dass diese während der Lesung unvermittelt einen Weg nach oben sucht.
Den eigenen Stil finden
Im Vorfeld sollte man sich darüber klar werden, wie man betonen möchte. Nicht jede Art zu lesen ist jeder Person gegeben. Manche gestikulieren, verstellen ihre Stimme, schreien, heulen und seufzen. Aber das ist überhaupt kein Muss, wenn es nicht zu euch passt. Andere diktieren vielleicht lieber und auch diese Art vorzutragen ist in Ordnung. Wichtig ist nur, einen Stil zu finden, der zur eigenen Person und natürlich auch zur vorgelesenen Geschichte passt. Egal, wofür ihr euch entscheidet, sich über Rhythmus und Betonungen Gedanken zu machen, gehört dazu.
Den Text markieren
Steht man schließlich auf der Bühne, kann es schon einmal passieren, dass alle guten Vorsätze wie weggepustet sind. Aber es gibt einen Trick: Markiert euch vorher im Text, wie ihr lesen wollt. Am besten tut ihr das Wort für Wort: Streicht euch an, wo die Betonungen liegen, wo ihr Pausen machen wollt, wo ihr leiser und wo lauter werdet. Schreibt euch am besten auch noch ein paarmal "langsamer!" an den Rand, damit ihr da nicht versehentlich in alte Muster verfallt.
Umgang mit Nervosität
Gerade bei der ersten Lesung ist Nervosität vollkommen normal. Bei manchen Menschen verschwindet sie mit zunehmender Routine komplett, bei anderen bleibt sie. Das ist aber überhaupt nicht schlimm: Nervös zu sein, ist in Ordnung. Helfen kann es auf jeden Fall, ruhig in den Bauch zu atmen, sich auf sich selbst zu konzentrieren und – ganz wichtig – gut vorbereitet zu sein. Außerdem solltet ihr im Vorfeld entscheiden, ob ihr lieber sitzt oder steht, ihr euren Text vor euch legt oder lieber haltet und was ihr mit euren Händen und Füßen macht.
Ich hatte schon einmal die Situation, dass während des Lesens meine Augen so trocken wurden, dass sie anfingen zu tränen. Das war ungünstig, weil mir dadurch der Text verschwommen ist. Aber ich hatte vorgebeugt: Ich kannte ihn so gut, dass ich trotzdem problemlos weiterlesen konnte. Einmal ist es mir auch passiert, dass mein linkes Bein plötzlich zu zittern begonnen hat, warum auch immer. Aber ich hatte mich so hingesetzt, dass ich es einfach nur fest auf den Boden drücken musste, um ihm Einhalt zu gebieten. Am Anfang war ich außerdem nervös genug, dass meine Hände gezittert haben. Deswegen lese ich an einem Tisch und lege sie auf die Platte. Wer das kennt: Besser nicht den ausgedruckten Text festhalten, das Papier übernimmt das Zittern deutlich und dann fällt es dem Publikum überhaupt erst auf.
Ansonsten gilt: Lasst euch nicht verrückt machen. Die Leute im Publikum sind nicht da, um euch zu bewerten und an den Pranger zu stellen, sondern einfach nur, um eine Geschichte zu hören. Und wenn diese nicht perfekt vorgetragen ist, geht die Welt davon auch nicht unter. Und gut zu wissen: Übung macht den Meister. Mit jeder Lesung wird es einfacher. Beim ersten Mal war ich doch noch recht nervös, beim zweiten Mal schon deutlich weniger und inzwischen bin ich vielleicht noch ein kleines bisschen angespannt, aber sicher nicht mehr aufgeregt. Als Autor:in eine Lesung zu halten, ist kein Hexenwerk. Die größte Hürde ist, sich überhaupt zu trauen.
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