Ich werde von allen missverstanden – High Fantasy mit komplexen Charakteren
- Kornelia Schmid
- 2. Jan.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen
Spätestens seit "Game of Thrones" sind Antiheld:innen oder moralisch fragwürdig handelnde Figuren in der High Fantasy und Low Fantasy angekommen. Das ist insofern ein Vorteil, als dass solche Figuren oft wesentlich mehr Komplexität besitzen als klassische Held:innen. Welche Bücher und Buchreihen mit verschiedenen Perspektiven arbeiten und den Protagonisten dabei echte Tiefe zugestehen, stelle ich hier vor.

Aus Autor:innensicht ist es keineswegs einfach, Figuren mit Tiefgang zu erschaffen. Denn selbst, wenn sie ausführlich entwickelt wurden – glaubhaft werden sie nur, wenn es der Text auch schafft, ihnen eine einzigartige Erzählstimme zu verleihen. Gerade in Büchern mit mehreren Perspektiven kann man sehr gut sehen, ob die verschiedenen Kapitel sich durch ihren Ton (nicht aber durch ihren Stil unterscheiden). Und manchmal tun sie das.

Wenn es um komplexe Charaktere geht, ist George R. R. Martins "Das Lied von Eis und Feuer" inzwischen nahezu ein Klassiker. Figuren wie Tyrion Lannister sind weder gut noch böse und bleiben definitiv in Erinnerung. Leider sind aber nicht alle Charaktere derart ambivalent: Eddard Stark ist wohl eindeutig gut und Joffrey Baratheon durchgängig böse. Das stört nun aber nicht großartig, irgendwie nimmt man es den beiden ab.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich ein gespaltenes Verhältnis zu den Büchern habe. Für mich gibt es einige ausgesprochen fragwürdige Darstellungen insbesondere was Frauen und weibliche Sexualität betrifft (es gibt beispielsweise eine Figur, die sich in ihrer Vergewaltiger verliebt – NoGo!). Auch, dass Gewalt in erster Linie um des Ekel- und Schockeffekts willen eingesetzt wird, finde ich problematisch. Andere Dinge wie eben die Figurendarstellung machen die Romane aber ziemlich gut und auch die Art und Weise, wie die Erwartungen der Rezipient:innen gebrochen werden, bleibt im Gedächtnis. Leser:innen mögen sich also selbst ein Bild machen.

Joe Abercrombies "Klingen-Reihe" ist für mich ebenfalls ein Paradebeispiel, wenn es um gelungene ambivalente Figuren geht. Auch hier bewegen sich die Charaktere moralisch eher im Graubereich, ohne dabei aber unsympathisch zu werden (das gilt bemerkenswerterweise sogar für den folternden Inquisitor). Jede Figur hat ihre eigene Art zu denken und zu sprechen, was sich auch im Sprachstil der jeweiligen Kapitel niederschlägt. Zudem gibt es viel Ironie und Reflexion menschlicher Beweggründe. Für mich eine lesenswerte Reihe (wenngleich die spätere Trilogie "Zauberklingen" - "Friedensklingen" - "Silberklingen" ein wenig schwächer ausgefallen ist). Wer Scheu vor Blutvergießen hat, sollte aber wohl dennoch lieber die Finger davon lassen.

In Brian McClellans "Powder-Mage-Chroniken" geht es dem Namen entsprechend um Schießpulver mit entsprechendem vom späten 18. bis frühen 19. Jahrhundert inspirierten Setting, aber auch um Intrigen, Militär, Krieg und Götter. Die Figuren sind ausgearbeitet und einprägsam – das gilt auch für Nebenfiguren ohne eigene Perspektive. Schön ist dabei auch, dass ein Protagonist über 60 Jahre alt ist. Figuren in diesem Alter stehen in Fantasyromanen selten im Mittelpunkt – hier aber tun sie es. Vor allem ab dem zweiten Band geht es sehr viel um das konkrete Kriegsgeschehen bzw. Militärstrategie – die Reihe sollten also nur Leute lesen, die genau das auch mögen. Gewalt wird dabei aber nicht ausgeschmückt. Trotz der Kriegsthematik würde ich das Buch deswegen nicht unbedingt als düster bezeichnen.

Ebenfalls von Brian McClellan und ebenfalls im Powder-Mage-Universum angesiedelt ist die Trilogie "Die Götter von Blut und Pulver". Diese Reihe spielt einige Jahre später und ist unabhängig von der ersten lesbar. Ein paar alte Bekannte tauchen auf, doch es gibt auch neue Figuren – und diese sind wieder interessant. Militär ist hier ebenfalls wieder ein wichtiger Bestandteil der Handlung, aber für mein Empfinden nahm die Thematik weniger Raum ein als in der Vorgängertrilogie. Stattdessen geht es stärker um Kolonialismus, eine gespaltene Gesellschaft, uralte Magie und die Aufdeckung von Geheimnissen.

Auch Brandons Sandersons Bücher um die Nebelgeborenen haben inzwischen beinahe Klassiker-Status. Neben dem ausgeilten Magiesystem sind auch die Figuren in der Tiefe gestaltet und zeigen dabei Ambivalenz. Die Buchreihe ist spannend und beschäftigt sich dabei auch mit Revolution und Religion – und letztlich dann auch mit der Rettung der Welt, wenn vielleicht auf eine andere Art und Weise, als man erwarten würde. Auch hier entspricht das Setting nicht dem Mittelalter. In den späteren Büchern ab "Hüter des Gesetzes" hat sich die Welt zudem entwickelt und ist in die Industrialisierung eingetreten – insofern ist auch das Setting nicht breitgetreten und schon allein dadurch lesenswert.

Wenn wir schon bei Sanderson sind: Natürlich sollten "Die Sturmlicht-Chroniken" an dieser Stelle ebenfalls eine Erwähung finden. Die Reihe wurde ambitioniert auf zehn Bände angekündigt. Nach fünf dicken Wälzern soll zumindest der erste Handlungsabschnitt abgeschlossen werden. Davon sind im Moment vier erschienen. Warum ich das schreibe: Dass die Bücher auf einen gewissen Umfang hin konzipiert wurden, merkt man ihnen an. Auch die "Nebelgeborenen"-Reihe hat ihre Längen. Wer diese als störend empfand, wird an den "Sturmlicht-Chroniken" wahrscheinlich wenig Freude haben, denn stringentes Erzählen ist eher nicht die Stärke der Romane. Die Ausgestaltung der Welt ist interessant, wirkt jedoch stellenweise ein wenig mit Ideen überladen. Nichtsdestotrotz: Wer sich in ein ungewöhnliches und so noch nirgendwo anders gezeigtes Setting begeben und dabei interessanten Figuren folgen will, wird hier durchaus fündig.
Ebenfalls sehr lesenswert: Sanderson Einzelbände "Elantris" oder "Sturmklänge". Auch hier überzeugen die Figuren absolut und führen durch eine spannende Handlung.

Ich muss gestehen, die "Nachtengel-Trilogie" von Brent Weeks mochte ich nicht sonderlich: zu unausgereift, zu verworren, merkwürdige Charaktere. Und ich muss auch gestehen, in der Regel tun sich Autor:innen danach schwer, bei mir wieder einen Fuß in die Tür zu bekommen. Doch eine Freundin hat mir die "Licht-Saga" ans Herz gelegt, also habe ich dem Autor noch einmal eine Chance gegeben. Meine Meinung: Zwischen den beiden Reihen liegen Welten. Die Kinderkrankheiten der ersten Trilogie sind nun ausgemerzt und es ist eine Reihe mit überzeugenden Charakteren und einem durchdachten Magiesystem entstanden. Den Figuren durch diese Welt des Lichts und der Farben zu folgen, war durchweg spannend.

Was Peter V. Bretts "Dämonen-Zyklus" betrifft, habe ich das erste Buch "Das Lied der Dunkelheit" noch gerne gelesen: Die Figuren sind ausgearbeitet, das Setting interessant. Allerdings lässt die Reihe in meinen Augen von Band zu Band sowohl inhaltlich als auch handwerklich nach, sodass ich mir den Abschluss der Reihe gespart (und es tatsächlich auch nie bereut) habe. Hinzu kommt ein in meinen Augen ausgesprochen fragwürdiges Frauenbild: Die weiblichen Figuren sind oftmals nur zu erpicht darauf, sich patriarchalen Strukturen zu unterwerfen (eine Figur will unmittelbar nach einer versuchten Vergewaltigung mit ihrem Retter Sex; eine andere nutzt einen einzigartigen mächtigen Zauber, um ihre Jungfräulichkeit für ihren künftigen Ehemann wiederherzustellen). Natürlich gibt es in der Realität genau solche Frauen – aber wer einen Roman darüber schreibt, hat die Wahl, sie lautstark zu Wort kommen zu lassen oder aber solche Charaktere zu erschaffen, die tatsächlich stark sind und gegen die Diskriminierung und andere Widrigkeiten ankämpfen. Zwar gibt es Szenen, in denen manche Frauenfiguren sich stark zeigen – das wird jedoch schnell wieder zunichte gemacht, wenn sie sich schon in der nächsten Textstelle in ihren Wünschen und Bedürfnissen den männlichen Charakteren komplett unterordnen. Auch hier möchte ich aber niemandem den Spaß am Lesen absprechen: Man möge sich selbst ein Bild machen, denn – und deswegen steht das Buch auch an dieser Stelle – über weite Strecken ist die Ausarbeitung der Figuren durchaus spannend.

Die Figuren in "Das Lied der Krähen" von Leigh Bardugo sind eigentlich gut konzipiert. Vor allem Kaz Brekker ist eine interessante und ambivalente Figur mit schwieriger Vergangenheit. Es gibt nur ein Problem: Die Charaktere sind alle 16 bzw. höchstens 17 Jahre alt und damit furchtbar jung für so viel Vorgeschichte, so viel Entwickelung, so viel Kompetenz. Denn minderjährige Genialität rottet sich hier derart auffällig auf einem Haufen zusammen wie in der Realität nur selten. Plausibel ist das in meinen Augen überhaupt nicht. Und leider schwächelt der Roman auch im Bereich der Handlung und Struktur immer wieder ein wenig an der Logik. Wer hierauf großen Wert legt, sollte deshalb vielleicht nicht zu dem Buch greifen. Wer da auch einmal ein Auge zudrücken und die Konstellation einfach so hinnehmen kann, kann bestimmt den Figuren gerne durch die Geschichte folgen.

"Das Lied der Krähen" spielt in einer Hafenstadt, die mich am Anfang ein wenig an Venedig erinnert hat, bevor mir aufging, dass die Vorlage vermutlich das historische Amsterdam ist. Richtige Venedig-Vibes gibt es dann aber in "Die Lügen des Locke Lamora" von Scott Lynch. Das Buch mit dem umständlichen Titel handelt von besagtem Gauner, mit (vielleicht) noblen Absichten. Dazu kommt ein spannendes und bildhaftes Worldbuilding und die Aufdeckung einiger Geheimnisse. Band 1 und Band 2 "Sturm über roten Wasser" sind auch als Einzelbände gut zu lesen. Ab Band 3 "Die Republik der Diebe" entspinnt sich eine größere Handlung, die in "Das Schwert von Emberlain" weitergeführt werden soll. Es gibt nur einen Haken: Der vierte Band ist schon viele Jahre angekündigt, ohne tatsächlich zu erscheinen. Im Moment soll der Release 2026 stattfinden – ob das tatsächlich der Fall sein wird, werden wir sehen.

"Die Stadt der tausend Treppen" von Robert Jackson Bennett ist ebenso wie die Nachfolger "Die Stadt der Klingen" und "Die Stadt der träumenden Kinder" als Einzelband lesbar, wenngleich die Welt immer dieselbe bleibt und die Figuren aus den späteren Bänden bereits aus Band 1 bekannt sind. Erzählt wird hier im wesentlichen aus einer Perspektive (mit ein paar Ausflügen) in die Köpfe der Nebenfiguren. Sowohl Protagonist:innen als auch Nebenfiguren sind jedoch durchwegs interessant. Was man aber anmerken muss: Die Handlung konzentriert sich stark auf die Aufdeckung von Geheimnissen, sodass sich die Komplexität der Charaktere vielleicht nicht immer so entfaltet, wie es möglich wäre. Dennoch sind alle drei Bücher sehr lesenswert.

In seiner Trilogie mit dem Startband "Der verlorene Thron" erzählt Brian Stavely von drei Geschwistern und ihrem Ringen um den Thron, während gleichzeitig eine unerwartete Bedrohung aufzieht. Es geht um Mord, Verrat, Krieg und Intrigen. Das Worldbuilding ist asiatisch inspiriert, nimmt sich dabei aber viele Freiheiten. Der Roman konzentriert sich sehr auf die Figuren und ihren Werdegang: Jede:r der drei Geschwister wächst anderswo auf und wird in einem anderen Bereich ausgebildet. Entsprechend unterschiedlich entwickeln sie sich. Dadurch dauert es natürlich ein wenig, bis die Figuren dahin kommen, wo man sie als Leser:in haben möchte. Spannend erzählt ist der Roman aber dennoch.

Nach all den internationalen Titel besteht hier nun allmählich dringender Bedarf nach deutschsprachigen Autor:innen. Rafaela Creydts "Der letzte Winter der ersten Stadt" ist ein Einzelband mit nur zwei Perspektiven – diese überzeugen aber rundum. Hinzu kommt ein ausgefeiltes Wordbuilding, das viele Bilder im Kopf entstehen lässt und eine spannende Handlung mit dramatischem Ausgang. Das Buch ist mir deshalb im Gedächtnis geblieben und hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.
Ebenfalls ein schönes Buch derselben Autorin und in derselben Welt angesiedelt: "Die Stadt am Kreuz". Auch hier überzeugen Charaktere, Worldbuilding und Handlung vollständig.
Was natürlich auf gar keinen Fall fehlen darf: Bei meiner Trilogie "Herrscher des Lichts" ging es von Anfang an darum, komplexe Figuren in den Mittelpunkt zu stellen. Die Charaktere sind moralisch grau und wenn man sie aufeinander loslässt, ergeben sich zwangsläufig eine Menge Konflikte. Sie entwickeln sich bis zum Ende von Band 3: Manche bekommen das, was sie wollen, aber nicht brauchen. Andere bekommen das, was sie brauchen, aber nicht wollen. Dazwischen gibt es natürlich auch noch Magie, Intrigen und Kriege.

Etwas weniger düster geht es in meinem Einzelband "Die Stimme im Licht" zu. Der Roman mit Steinzeit-Setting erscheint im Herbst 2025 und erzählt aus vier Perspektiven, wie Außenseiter in einer archaischen Welt, in der Magie gerade erst erwacht, ihren Platz suchen. Das Buch ist unabhängig von "Das Licht aus dem Nebel" und seinen Folgebänden zu lesen, spielt aber in derselben Welt, sodass Kenner:innen zumindest einige Anspielungen entdecken werden.
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