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Fiktive Charaktere entwickeln – Hören Autor:innen Stimmen?

  • Autorenbild: Kornelia Schmid
    Kornelia Schmid
  • 7. Feb. 2024
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Mai

Ihr kennt es: Genie und Wahnsinn – zwei Worte, die einfach zusammengehören. Aber muss man tatsächlich ein wenig wahnsinnig sein, um Kunst zu schaffen? Und braucht man den Wahnsinn vielleicht zum Entwickeln fiktiver Charaktere? Hier stelle ich euch vor, wie ihr realistische Romanfiguren erschafft (und dabei vielleicht auch ihre Stimmen hört).


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In meinem Roman "Das Licht aus dem Nebel" gibt es viele Figuren und sieben Perspektivträger. Aus mehreren Sichten zu schreiben funktioniert nur, wenn jede Perspektive ihre eigene Erzählstimme besitzt. Aber wie bekommt man Persönlichkeit in eine Figur?


Schablonen schaden mehr als sie nützen


Wer Pen & Paper Rollenspiele wie "Dungeons & Dragons" oder "Das schwarze Auge" spielt, kennt es: Charakterbögen, in die man das Aussehen einer Figur und ihre Attribute wie Stärke, Geschicklichkeit und Intelligenz einträgt. Dabei ist der Ausdruck "Charakterbogen" eigentlich falsch. Denn was dabei am Ende nämlich nicht entsteht, ist ein Charakter. Daran ändert es auch nichts, sich eine lange Hintergrundgeschichte und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auszudenken. Denn am Ende sind Menschen nun einmal sehr viel komplexer als das.


Viele Schreibende, so zumindest mein Eindruck, gehen aber auch bei ihren Romanfiguren so vor. Und los geht's dabei ganz oft mit dem Aussehen (am besten möglichst cool – was so viel heißt wie: in der Natur selten anzutreffen, also zum Beispiel mit weißblonden Haaren und grünen Augen). Doch wie soll aus solchen äußerlichen Zuschreibungen eine lebendige Persönlichkeit entstehen? Derartige Schablonen gaukeln nur vor, dass hier ein Charakter entwickelt wurde. Mein Tipp an dieser Stelle: Werft Charakterbögen weg.


In Zentrum steht ein Konflikt


Ich entwickle die Handlung meiner Romane in erster Linie aus den Figuren heraus – dennoch gibt es natürlich ein paar Dinge, die mir von vornherein klar sind. Und das sind die Konflikte. In "Das Licht aus dem Nebel" geht es um schwierige Beziehungen: bei Paaren, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern. Doch ich will nicht zu viel spoilern. Deswegen ein unverfängliches Beispiel ohne Äquivalent.


Nehmen wir einmal an, meine Hauptfigur ist eine Prinzessin. Es gibt sicher etwas, das sie will, aber nicht hat (und damit einen Konflikt). Vielleicht ist das der Thron. Das ist mein Ausgangspunkt. Und hier beginne ich nun zu fragen.


Frage: Warum will sie den Thron? Antwort: Weil ihre Familie von ihr erwartet, dass sie das Erbe fortführt. Frage: Warum übernimmt sie die Wünsche ihrer Familie? Antwort: Weil sie innerhalb dieses engen Geflechts ihre tatsächlichen Wünsche niemals reflektiert hat.


Nun, das ist doch schon einmal eine Erkenntnis, die viel über diese Person aussagt. Machen wir also weiter.


Frage: In welchen anderen Bereichen wird es ihr zum Verhängnis, dass sie ihre tatsächlichen Wünsche niemals reflektiert hat? Antwort: Sie wird sich auch in Liebesbeziehungen schwertun, auf mehr als nur Äußerlichkeiten zu achten.


Ah, das ist auch ein wichtiger Punkt, den er lädt dazu ein, eine zweite Figur hinzuzufügen, die genau diese Problematik verstärkt. Bei der zweiten Figur ist dann natürlich dasselbe Vorgehen gefragt. Sagen wir einmal, das Love Interest der Prinzessin ist ein anderer Adelsspross.


Frage: Warum will er eine Liebesbeziehung mit einer Person, die emotional nicht reif genug dafür ist? Antwort: Weil ihm das gesellschaftliche Ansehen, das mit dieser Beziehung einhergeht, wichtiger ist. Frage: Warum ist er denn so auf das gesellschaftliche Ansehen angewiesen? Antwort: Weil er nicht weiß, wie man außerhalb einer bestimmten Gruppen sozial überlebt. Frage: Warum weiß er das nicht?


Es gibt viele solcher Frageketten und viele solcher Anknüpfungpunkte. Meistens ergibt sich aus jeder neuen Antwort auch eine neue Frage. Auf diese Art und Weise taste ich mich immer näher an eine Figur heran, erkenne neue Facetten ihrer Persönlichkeit und ergründe ihre tiefsten Bedürfnisse, Ängste und Geheimnisse – auch oder vor allem (!) diejenigen, die ihnen selbst nicht bewusst sein. Und irgendwann gelange ich an den Punkt, an dem ich keine Frage mehr habe. Da ist die Romanfigur dann schon fast lebendig.


Psychologie-Wissen recherchieren


Was natürlich auffallen muss: Die Figuren werden hier psychologisch seziert. Autor:innen, die sich auf tieferer Ebene mit ihren Charakteren befassen wollen, kommen auch gar nicht darum herum, sich ein bestimmtes Psychologiewissen anzueigenen. Und ganz generell gehört Menschenkenntnis zu den Kompetenzen, die Autor:innen besitzen sollten. Das ist wahrscheinlich die schlechte Nachricht: Alle, die auf eine einfache Lösung oder einen simplen Schritt-für-Schritt-Fahrplan zur Figurenentwicklung gehofft haben, dürften nun enttäuscht sein. Aber wer hat gesagt, dass es einfach ist, einen guten Roman zu schreiben?


Immer eine gute Recherchequelle ist für mich beispielsweise https://www.spektrum.de/. Denn natürlich muss klar sein, dass im Internet viel pseudopsychologisches Wissen kursiert – greift deswegen besser auf wissenschaftlich fundierte Quellen zurück und nicht auf Frauenzeitschriften, Beziehungsratgeber und Co.! Denn wird zu stark vereinfacht, tappt man schnell in die Klischeefalle – und Klischees sind genau das Gegenteil von komplexen Charakteren!


Am Ende solltet ihr wissen, was die Dunkle Triade ist, wie sich Borderliner:innen verhalten, welche Merkmale Autist:innen besitzen, welche Bindungstypen es gibt und vieles mehr. Sich mit solchen Mustern zu beschäftigen, hilft enorm dabei, die Fragen, die ihr den Charakteren stellt, auch beantworten zu können. Was außerdem hilft: Euch selbst und die Menschen in eurem Umfeld zu ergründen. Warum handeln sie so, wie sie handeln? Warum empfinden sie in bestimmten Situationen so und nicht anders? Wisst ihr denn selbst immer, warum ihr gerade etwas auf eine bestimmte Art und Weise gemacht, etwas bestimmtes gesagt oder warum ihr gerade etwas so stark empfunden habt? Nun, immer könnt ihr es wahrscheinlich gar nicht wissen. Aber hin und wieder darüber nachzugrübeln, schadet nicht.


Wohin kommen die Eigenschaften?


Ich habe bereits geschrieben, Charakterbögen helfen wenig. Auch dann nicht, wenn sie über Äußerlichkeiten hinausgehen und Eigenschaften wie Intelligenz oder Weisheit benennen. Denn das Problem dabei ist, dass diese Aspekte hier nur isoliert betrachtet werden, ohne aufzuarbeiten, wie sie die Persönlichkeit als Ganzes prägen.


Wenn ich mit meinen Figuren in die Fragekette gehe, gibt es natürlich bestimmte Dinge, die ich einfach festlege, beispielsweise, ob die Figur eher introvertiert oder extravertiert ist. Und diese Dinge werde ich dann natürlich bei der Beantwortung der Fragen berücksichtigen.


Kommen wir wieder auf die fiktive Prinzessin zurück.


Antwort: Weil sie innerhalb dieses engen Geflechts ihre tatsächlichen Wünsche niemals reflektiert hat. Frage: Warum hat sie ihre Wünsche niemals reflektiert? Antwort: Sie hasst es, sich mit sich selbst zu beschäftigen und hat am liebsten ständig Menschen um sich herum.


Die Antwort könnte natürlich genauso gut ganz anders lauten, wie etwa:


Antwort: Sie wurde so erzogen, dass es die Aufgabe von Prinzessinnen ist, sich für andere aufzuopfern.


Beide Antwortpfade sind legitim – welchen davon man als Autor:in einschlagen möchte, ist völlig offen und hängt davon ab, welche Art von Geschichte man erzählen bzw. welche Art von Persönlichkeit man zeigen möchte. Es gibt also ein paar Zuschreibungen, die man festlegen kann bzw. muss. Insofern könnt ihr euch durchaus entscheiden: Die Figur ist charismatisch und Punkt. Ich rate lediglich davon ab, gleich einen ganzen Katalog an unzusammenhängenden Eigenschaften aufzustellen.


Bewusst platzierte Widersprüchlichkeiten


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Zurück zu den inzwischen fast lebendigen Figuren. Warum nur fast? Nun, weil Menschen nicht immer vollkommen kausal handeln. Ist es nicht vielmehr so, dass sie widersprüchlich sind? Eine Person möchte etwas Bestimmtes und eigentlich gibt es naheliegende Möglichkeiten, genau das zu bekommen. Aber sie beschreitet trotzdem den viel schwierigeren Pfad. Sie legt sich selbst Steine in den Weg. Sie handelt gegen ihre eigenen Bedürfnisse. All das ist unlogisch – aber es ist eben auch menschlich. Deswegen bekommt bei mir jede Figur ihre eigene Portion Widersprüchlichkeit mit. Die eine ist beispielsweise zutiefst rational und handelt dennoch in vielen Situationen impulsiv und bereut es hinterher. Bei einer anderen ist es nur ein Detail: Eigentlich leidet sie unter einer Blutphobie, begibt sich aber andauernd in Situationen, in denen sie mit Wunden konfrontiert wird. Merkwürdig? Ja. Realistisch? Auch ja.


Probeläufe für Charaktere


Werden Romanfiguren für ein bestimmtes Setting, für einen bestimmten Plot konzipiert, besteht die Gefahr, dass sie unabhängig davon nicht mehr funktionieren. Wenn ihr testen wollt, ob eure Charaktere wirklich unabhängig sind, könnt ihr Probeläufe veranstalten. Was ihr dafür braucht, ist ein wenig Zeit und die Fähigkeit zur Tagträumerei.


Seid ihr im Alltag unterwegs, beispielsweise in Bus und Bahn, dann beobachtet das Geschehen um euch herum. Und nun stellt ihr euch vor, wie sich die Szene verändern würde, wenn einer eurer Charaktere nun ebenfalls dort sitzen würde. Wenn sich die Frau mit Hund nicht mit einem Fremden, sondern mit (in meinem Fall) Merto Kahragon unterhalten würde: Wie würde Merto antworten? Wie würde er reagieren? Mag er eigentlich Hunde? Und wohin fährt er? Wo steigt er aus? Was für ein Mensch wäre er in unserer Welt? Wie wäre er angezogen und welchen Beruf hätte er? Wenn ihr das alles wisst, dann habt ihr wirklich ganze Arbeit geleistet!


Und das Aussehen?


Ganz ehrlich? Das Aussehen ist das Unwichtigste. Ein cooles Aussehen macht keine coole Figur. Ein cooler Charakter macht eine coole Figur. Natürlich beeinflusst das Aussehen das Auftreten von Charakteren: Wer normschön ist, wird tendenziell auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen und entsprechend behandelt. Solche Erfahrungen sind prägend. Wer äußerlich von der Norm abweicht, in welcher Hinsicht auch immer, erlebt bestimmte Situationen anders. Zu berücksichtigen ist das Äußere damit natürlich auch – man kann es auch bewusst einsetzen, indem man Abweichungen als Aufhänger für die Persönlichkeitsentwicklung benutzt. Aber am Ende entscheidet das Äußere nicht über eine Persönlichkeit.


Auch, wenn es für den Text wichtig ist, dass eine Figur attraktiv ist, solltet ihr euch fragen, ob sich Attraktivität denn wirklich primär von Äußerlichkeiten ableiten lässt. In meinen Augen gibt es in der Realität mehr als genug Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Charismatische Persönlichkeiten müssen nicht normschön sein, um Verehrer:innen anzuziehen – egal, ob in Romanen oder in der Wirklichkeit.


Aber nochmal zurück zum Wahnsinn


Viele Autor:innen sprechen davon, dass ihre Romanfiguren quasi lebendig sind und oft auch eine Art eigenen Willen entwickeln, der den Handlungsverlauf beeinflusst. Auch ich habe oben im Text das Wort schon mehrfach verwendet. In meiner Danksagung zu "Das Licht aus dem Nebel" habe ich außerdem geschrieben, dass ich Stimmen höre. Das war natürlich übertrieben. Tatsächlich ist es jedoch sehr wohl so, dass meine Charaktere so ausgearbeitet sind, dass ich nicht darüber nachdenken muss, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten und was sie sagen. Aus handwerklicher Sicht ist das sehr effizient: auf diese Art und Weise muss ich keine Dialoge entwickeln – denn die entwickeln sich ganz von selbst aus dem Kontext heraus.


Nach einem zehnstündigen Schreibtag habe ich mich schon einmal ertappt, den Laptop zuzuklappen und trotzdem noch fünf Minuten lang in der zynischen Gedankenwelt der Figur zu verharren, mit der ich mich den ganzen Tag beschäftigt hatte. Ist das nun verrückt? Vielleicht ein wenig.


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