Ihr kennt es: Genie und Wahnsinn – zwei Worte, die einfach zusammengehören. Aber muss man tatsächlich ein wenig wahnsinnig sein, um Kunst zu schaffen? Oder braucht man den Wahnsinn vielleicht zum Entwickeln fiktiver Charaktere? Hier stelle ich euch vor, wie ihr realistische Romanfiguren erschafft (und dabei vielleicht auch ihre Stimmen hört).
In meinem Roman "Das Licht aus dem Nebel" gibt es viele Figuren und sieben Perspektivträger. Aus mehreren Sichten zu schreiben funktioniert nur, wenn jede Perspektive ihre eigene Erzählstimme besitzt. Aber wie bekommt man Persönlichkeit in eine Figur?
Schablonen schaden mehr als sie nützen
Wer Pen & Paper Rollenspiele wie "Dungeons & Dragons" oder "Das schwarze Auge" spielt, kennt es: Charakterbögen, in man das Aussehen einer Figur und ihre Attribute wie Stärke, Geschicklichkeit und Intelligenz einträgt. Dabei ist der Ausdruck "Charakterbogen" eigentlich falsch. Denn was dabei am Ende nämlich nicht entsteht, ist ein Charakter. Daran ändert es auch nichts, sich eine lange Hintergrundgeschichte und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auszudenken. Denn am Ende sind Menschen nun einmal sehr viel komplexer als das.
Viele Schreibende, so zumindest mein Eindruck, gehen aber auch bei ihren Romanfiguren so vor. Und los geht's dabei ganz oft mit dem Aussehen (am besten möglichst cool – was so viel heißt wie: in der Natur selten anzutreffen, also zum Beispiel mit weißen Haaren und grünen Augen). Doch wie soll aus solchen äußerlichen Zuschreibungen eine lebendiger Persönlichkeit entstehen? Solche Schablonen gaukeln am Ende nur vor, dass hier ein Charakter entwickelt wurde. Ich würde sie deswegen wegwerfen.
In Zentrum steht ein Konflikt
Ich entwickle die Handlung meiner Romane in erster Linie aus den Figuren heraus – dennoch gibt es natürlich ein paar Dinge, die mir von vornherein klar sind. Und das sind die Konflikte. In "Das Licht aus dem Nebel" geht es um schwierige Beziehungen: bei Paaren, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern. Doch ich will nicht zu viel spoilern. Deswegen ein unverfängliches Beispiel.
Nehmen wir einmal an, meine Hauptfigur ist eine Prinzessin. Es gibt sicher etwas, das sie will, aber nicht hat (und damit einen Konflikt). Vielleicht ist das der Thron. Das ist mein Ausgangspunkt. Und hier beginne ich nun zu fragen.
Frage: Warum will sie den Thron? Antwort: Weil ihre Familie von ihr erwartet, dass sie das Erbe fortführt. Frage: Warum übernimmt sie die Wünsche ihrer Familie? Antwort: Weil sie innerhalb dieses engen Geflechts ihre tatsächlichen Wünsche niemals reflektiert hat.
Nun, das ist doch schon einmal eine Erkenntnis, die viel über diese Person aussagt. Machen wir also weiter.
Frage: In welchen anderen Bereichen wird es ihr zum Verhängnis, dass sie ihre tatsächlichen Wünsche niemals reflektiert hat? Antwort: Sie wird sich auch in Liebesbeziehungen schwertun auf mehr als nur Äußerlichkeiten zu achten.
Ah, das ist auch ein wichtiger Punkt, den er lädt dazu ein, eine zweite Figur hinzuzufügen, die genau diese Problematik verstärkt. Bei der zweiten Figur ist dann natürlich dasselbe Vorgehen gefragt.
Frage: Warum will sie eine Liebesbeziehung mit einer Person, die emotional überhaupt nicht reif genug dafür ist? Antwort: Weil ihr das gesellschaftliche Ansehen, das mit dieser Beziehung einhergeht, wichtiger ist. Frage: Warum ist sie denn so auf das gesellschaftliche Ansehen angewiesen? Antwort: Weil sie nicht weiß, wie man außerhalb einer bestimmten Gruppen sozial überlebt. Frage: Warum weiß sie das nicht?
Es gibt viele solcher Frageketten und viele solcher Anknüpfungpunkt. Meistens ergibt sich aus jeder neuen Antwort auch eine neue Frage. Auf diese Art und Weise taste ich mich immer näher an eine Figur heran, erkenne neue Facetten ihrer Persönlichkeit und ergründe ihre tiefsten Bedürfnisse, Ängste und Geheimnisse. Und irgendwann gelange ich an den Punkt, an dem ich keine Frage mehr habe. Da ist sie schon fast lebendig.
Bewusst platzierte Widersprüchlichkeiten
Warum nur fast? Nun, weil Menschen nicht immer vollkommen kausal handeln. Ist es nicht vielmehr so, dass sie widersprüchlich sind? Eine Person möchte etwas Bestimmtes und eigentlich gibt es naheliegende Möglichkeiten, genau das zu bekommen. Aber sie beschreitet trotzdem den viel schwierigeren Pfad. Sie legt sich selbst Steine in den Weg. Sie handelt gegen ihre eigenen Bedürfnis. All das ist unlogisch – aber es ist eben auch menschlich. Deswegen bekommt bei mir jede Figur ihre eigene Portion Widersprüchlichkeit mit. Die eine ist beispielsweise zutiefst rational und handelt dennoch in vielen Situationen impulsiv und bereut es hinterher. Bei einer anderen ist es nur ein Detail: Eigentlich leidet sie unter einer Blutphobie, begibt sich aber andauernd in Situationen, in denen sie mit Wunden konfrontiert wird.
Und das Aussehen?
Ganz ehrlich? Das Aussehen ist das Unwichtigste. Ein cooles Aussehen macht keine coole Figur. Ein cooler Charakter macht eine coole Figur. Natürlich beeinflusst das Aussehen das Auftreten von Charakteren: Wer normschön ist, wird tendenziell auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen und entsprechend behandelt. Solche Erfahrungen sind prägend. Wer äußerlich von der Norm abweicht, in welcher Hinsicht auch immer, erlebt bestimmte Situationen anders. Zu berücksichtigen ist das Äußere damit natürlich auch. Aber am Ende entscheidet es nicht über eine Persönlichkeit.
Aber nochmal zurück zum Wahnsinn
Viele Autor:innen sprechen davon, dass ihre Figuren quasi lebendig sind und oft auch eine Art eigenen Willen entwickeln, der den Handlungsverlauf beeinflusst. Auch ich habe oben im Text das Wort schon zweimal verwendet. In meiner Danksagung zu "Das Licht aus dem Nebel" habe ich außerdem geschrieben, dass ich Stimmen höre. Das war natürlich übertrieben. Tatsächlich ist es jedoch sehr wohl so, dass meine Charaktere so ausgearbeitet sind, dass ich nicht darüber nachdenken muss, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten und was sie sagen. Aus handwerklicher Sicht ist das sehr effizient: auf diese Art und Weise muss ich keine Dialoge entwickeln – denn die entwickeln sich ganz von selbst aus dem Kontext heraus.
Nach einem zehnstündigen Schreibtag habe ich mich schon einmal ertappt, den Laptop zuzuklappen und trotzdem noch fünf Minuten lang in der zynischen Gedankenwelt der Figur zu verharren, mit der ich mich den ganzen Tag beschäftigt hatte. Ist das nun verrückt? Vielleicht ein wenig.
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