"Es sollen ja nur ein paar Seiten werden. Die hast du doch schnell." Hab ich? Hab ich nicht! Dass sich kurze Texte schneller schreiben als lange, ist ein verbreiteter Irrglaube – und dass sie sich einfacher schreiben sowieso. Denn das würde ja voraussetzen, dass die Hauptarbeit beim Schreiben das Tippen ist. Und an dieser Stelle gleich mal einen fiesen Spoiler: Ist es nicht. Aber nochmal ganz von vorne.
Was ist das überhaupt, eine "Kurzgeschichte"?
Das ist eine Frage, über die gerne und viel gestritten wird. In der Regel kommt dabei irgendwann der Punkt, an dem ein Raster über einen Text gelegt wird: unmittelbarer Einstieg, nur eine Zeitebene, offenes Ende und so weiter. Meine persönliche Meinung dazu: Wer besser als durchschnittlich schreiben will, sollte sich von der Idee verabschieden, dass durch die Umsetzung eines Rasters ein denkwürdiger Text entsteht. Deswegen wird man eine derartige Checkliste auf meine Erzählungen nicht anwenden können. Also machen wir es uns mit der Definition doch ganz einfach: Eine "Kurzgeschichte" ist eine kurze Geschichte.
Und warum dauert das Schreiben nun so lange?
Jeder Text braucht eine Menge an Konzeption und eine Menge an Recherche. Beides ist in der Regel im Vorfeld zu leisten, die Textlänge spielt dabei kaum eine Rolle. Konzeption – genau hier wird es dann knifflig. In einem Roman kann ich mehrere Themen anschneiden, in einer Kurzgeschichte nur ein einziges. In einem Roman kann ich verschiedene Schreibansätze verfolgen, in einer Kurzgeschichte nur einen. In einem Roman kann ich mir Zeit lassen, einen Spannungsbogen aufzubauen, in einer Kurzgeschichte hingegen muss ihn um ein Vielfaches straffer spannen.
Also ja: eine Kurzgeschichte zu schreiben ist weitaus komplexer und definitiv die höhere Kunst. Deswegen habe ich auch lange gebraucht, bis ich Kurzgeschichten "konnte". Das heißt: Nach ziemlich genau 10 Jahren Schreiberfahrung im Bereich von Romanen habe ich meinen ersten Kurztext zu Papier gebracht – und er hat nicht funktioniert. Erst ein Jahr und viele Versuche später später habe ich dann meine erste Kurzgeschichte veröffentlicht.
Was können Kurzgeschichten?
Sind Kurzgeschichten nur ein Happen für zwischendurch, der einem Roman ohnehin nie das Wasser reichen können wird? Was in den meisten Fällen zutreffen dürfte, ist, dass in einem Roman insgesamt mehr Recherche- und Schreibarbeit steckt. Ist er deswegen automatisch besser? Ein klares Nein. Er ist anders. Denn die Gattung der Kurztexte birgt ganz eigene Vorteile: Die verknappte Form ermöglicht eine Prägnanz und auch den Spielraum für künstlerische Formen, die in der Breite eines Romans überhaupt nicht funktionieren würden. Ein Vergleich zwischen Roman und Kurzgeschichte ist deswegen genauso wie Äpfel und Birnen einander gegenüberzustellen: Beides ist Obst, aber ihr wisst schon ...
Was bringt es also, Kurzgeschichten zu schreiben?
Wer tolle Romane und schlechte Kurzgeschichten schreibt, hat offenbar ein Talent für die Langform. Herzlichen Glückwunsch, das ist viel mehr, als die meisten Menschen von sich behaupten können! Und es ist auch in Ordnung, damit zufrieden zu sein. Man muss nicht imer alles wollen. Wenn man aber mehr will, drängt sich durchausdie Frage auf: Warum keine Kurzgeschichten? Wer sein Verständnis für Sprache erweitern will, sollte verschiedene Gattungen ausprobieren und auch beherrschen. Und von dieser Kompetenz werden auch längere Texte erheblich profitieren!
Ich selbst habe inzwischen nicht nur in Anthologien, sondern auch zwei eigene Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Die erste davon, "Goldlichtrisse", findet ihr hier: https://www.amazon.de/dp/B0CKBVXDHS
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