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Writer's pictureKornelia Schmid

Am Anfang anfangen? – Tipps für Romaneinstiege

Der Anfang ist die Visitenkarte eines Romans. Oft entscheidet er darüber, ob potenzielle Leser:innen ein Buch kaufen oder nicht. Denn ist der Anfang spannend, wollen sie weiterlesen. Ist er es nicht, stellen sie das Buch zurück ins Regal. Wie schafft man es aber, einen spannenden Anfang zu schreiben? Wie erzeugt man durch einen einzigen Satz einen Sog? Meine Gedanken dazu findet ihr hier.


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Wie man einen Roman anfängt? Man fängt einfach da an, wo die Geschichte anfängt, oder? Nun, alle, die dieser Meinung sind, muss ich enttäuschen. Der Beginn eine Geschichte taugt nicht automatisch als denkwürdiger Einstieg. Manche Geschichten beginnen ganz leise. Unser Job als Schreibende ist es dann, diese leisen Töne so zu strukturieren, dass sie plötzlich laut klingen.


Wenn die Protagonist:in in den Spiegel schaut


Ich gebe es unumwunden zu: Genau einen solchen Anfang habe ich auch schon in einem meiner frühen (unveröffentlichten) Romane geschrieben: Die Protagonistin wacht morgens auf, alles ist friedlich. Sie wäscht sich und wirft einen Blick in den Spiegel – für die unerfahrene Autorin natürlich die perfekte Gelegenheit, ihr Äußeres zu beschreiben. Ich bin sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die der Verlockung, es sich mit einem solchen Anfang besonders einfach zu machen, nicht widerstanden hat.


Aber was ist eigentlich das Problem daran? Nun, das Problem ist, dass in einem solchen Anfang keinerlei Dynamik, keinerlei Konflikt, keinerlei Rätsel steckt. Kurzum: Hier steckt keinerlei Spannung. Mehr zum Thema "Spannung erzeugen" findet ihr übrigens auch hier: https://www.kornelia-schmid.de/post/spannung-in-romanen-erzeugen.


In meinem Manuskript ging die Protagonistin anschließend auf einem Marktplatz. Dort gab es einen Attentat und sie bekam etwas davon ab. Dabei sind ihre magischen Fähigkeiten erwacht. Nun, Attentate und erwachende magische Fähigkeiten – das ist doch sehr viel interessanter als ein müdes Mädchen im Spiegel! Mein heutiges Autorinnen-Ich hätte meinem damaligen Schreib-Ich geraten, viel später in die Szene einzusteigen, nämlich erst dann, wenn auch etwas passiert. Und das Aussehen der Protagonistin? Unwichtig. Das brauchen wir so schnell überhaupt nicht zu wissen – falls wir es denn überhaupt in dieser Ausführlichkeit wissen müssen.


Kein Platz für Normalität


Bücher werden gelesen, um neue Gedanken zu entwickeln, in fremde Welten abzutauchen, ferne Horizonte zu entdecken. Bücher stellen das Ungewöhnliche in den Fokus. Selbst wenn es um scheinbar Gewöhnliches geht, dann nur in einem ungewöhnlichen Kontext. Autor:innen sollten sich dessen bewusst sein, dass Normalität es selten wert ist, in einer Geschichte verewigt zu werden. Denn Normalität haben wir andauernd. Was gibt es darüber noch zu sagen?


Für Anfänge bedeutet das: Fragt euch nicht, wo die Geschichte beginnt. Fragt euch, an welcher Stelle sie richtig in Fahrt kommt. Und dann beginnt genau da.


Weg mit der "Spannungsmaus"


Wer kennt die Spannungsmaus? Zu meiner Schulzeit war das sozusagen das Plotsystem, das uns gelehrt wurde, um eine Erlebniserzählung zu verfassen.


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Die Spannungsmaus funktioniert folgendermaßen: Sie untergliedert einen Text in Einleitung, Hauptteil und Schluss. Zu Beginn ist keine Spannung vorhanden, die baut sich erst langsam auf, bis es schließlich einen Höhepunkt gibt. Danach fällt sie schnell wieder ab und der Text endet. Für dieses Schema gibt es auch andere Begriffe, beispielsweise "Fieberkurve". Aber egal, wie sie alle heißen: Weg damit!


Ich weiß nicht, warum genau in der Schule etwas gelehrt wird, das aus Autor:innensicht komplett für die Tonne ist (entschuldigung, wenn ich das so drastisch sage). Ich nehme an, Pädagog:innen werden schon gute Gründe dafür haben, vielleicht ist diese Struktur ja besonders gut geeignet, um locker mit dem Schreiben anzufangen. Was mich betrifft, so habe ich das Gefühl, dass es mir eher geschadet hat, dass ich als erstes dieses Schema in den Kopf gepflanzt bekommen habe. Denn es war wirklich schwierig, es wieder loszuwerden.


Denn wir sollten niemals (niemals!) an einem Punkt ohne Spannung mit einer Geschichte beginnen. Wir beginnen an einem spannenden Punkt und versuchen diese Spannung zu halten. Manchmal darf es in einem Roman natürlich auch ruhigere Passagen geben, aber bitte niemals am Anfang! Und am Schluss darf es ebenfalls ruhig noch spannend zugehen. Cliffhanger existieren nicht umsonst. Mehr zum Thema "Enden schreiben" findet ihr hier: https://www.kornelia-schmid.de/post/und-dann-ist-die-geschichte-aus-enden-schreiben.


Beispiele für gelungene Anfänge


Wie gelungene Anfänge aussehen können, versteht man am besten anhand von Beispielen. Ich habe ein paar aus der fantastischen Literatur ausgewählt. Oft ist es nur ein Satz – und der sitzt so gut, dass er bereits eine immense Spannung aufbaut.


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Beginnen wir mal mit etwas, das die allermeisten kennen: "Harry Potter" von J. K. Rowling. Band 1 "Der Stein der Weisen" startet folgendermaßen:


Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nr. 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar.


Der Satz ist gut. Warum? Weil die meisten Menschen nicht normal sein wollen. Unsere Gesellschaft lechzt nach Individualität. Bekommen wir gesagt "Du bist einfach total normaler Durchschnitt", sorgt das bei vielen eher für Unbehagen als für Stolz. Aber die beiden sind stolz drauf. Sogar "sehr stolz". Hinzu kommt die Akribie, die schon in einer Formulierung wie "Ligusterweg Nr. 4" steht. Denn diese Information ist an dieser Stelle für die Leser:innen überhaupt nicht wichtig – für den gelungenen Satz aber schon. Diese wenigen Worte lassen uns spüren, dass wir es hier mit ziemlichen Spießern zu tun haben. Für die ist es wichtig, dass sie im Ligusterweg wohnen. Für die ist es auch wichtig, dass es die Nummer 4 ist. Denn die Nummer 4 ist normal. So maximal normal, wie es eben geht.


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Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.


Na, kennt ihr den? Das ist der Anfang eines Klassikers der Fantastik, nämlich "Die Verwandlung" von Franz Kafka. Ich habe davor gewarnt, den Protagonisten morgens im Bett aufwachen zu lassen, nicht wahr? Nun, hier funktioniert es bestens und zwar, weil dieses Aufwachen alles andere als normal ist. Wir erfahren über den Protagonisten schon einmal, dass er unruhige Träume hat und bekommen dadurch eine Ahnung, dass wir es hier nicht unbedingt mit einer Feel-Good-Lektüre zu tun bekommen. Und wir erfahren, dass er sich in einen riesigen Käfer verwandelt hat. Was zum ...? Was es damit auf sich hat, will man nach diesem Satz doch auf jeden Fall wissen und wird weiterlesen.


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Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.


Noch ein Klassiker: "1984" von George Orwell. Im ersten Moment habe ich das letzte Wort gar nicht wirklich registriert. Aber dann: Die Uhren schlagen dreizehn? Wie geht das denn? Interessant, oder? Und dass es ein kalter, klarer Tag im April ist, lässt auf jeden Fall auch Stimmung aufkommen. Irgendwie kennt man solche Tage, in denen man hofft, dass der Frühling jetzt endlich mal richtig da ist, das irgendwie aber nicht passiert. Da stört es auch gar nicht, dass hier gleich zwei Adjektive hintereinander verwendet werden, denn sie sind wichtig für den Rhythmus des Satzes.



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Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt – meins nicht.


Das sind "Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär" von Malter Moers. Wie kann ein Leben denn nicht mit der Geburt beginnen? Wer diese Frage beantwortet wissen will, muss wohl den Roman lesen. Schlau gemacht, oder?












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Es war wieder Abend geworden. Das Wirtshaus zum WEGSTEIN lag in Stille, und es war eine dreistimmige Stille.


Ja, das ist mehr als ein Satz. Aber das lassen wir durchgehen, oder? Diese Zeilen stammen aus "Der Name des Windes" von Patrick Rothfuss. Und ich muss sagen, da bin ich dem Autor total auf den Leim gegangen. Ich habe das Buch wegen diesem Anfang gekauft und fand so ziemlich alles, was danach kam, sterbenslangweilig. Nun, zumindest, was den Schreibstil betrifft, kann man dem Autor aber keinen Vorwurf machen. Warum es ausgerechnet in einem Wirtshaus so still ist und wie Stille eine Stimme haben kann und wieso es dann irgendwie sogar drei Stimmen sind – das ist nicht nur poetisch, sondern auch ungewöhnlich und spannend.


Und weil's so schön ist, verrate ich euch an dieser Stelle auch noch den Anfang meines kommenden Romans (die Interpretation überlasse ich euch):


Der Häuptling des fremden Stammes hieß Wotto, was an und für sich völlig in Ordnung war.


Fragen, Widersprüche, Ungewöhnliches, Unmögliches


Wie funktionieren spannende erste Sätze also? Was all diese Beispiele gemeinsam haben, ist, dass sie unkonventionell sind. Sie stellen Fragen, natürlich ohne diese zu beantworten. Warum wollen die Dursleys unbedingt normal sein? Wie kann Gregor Samsa plötzlich ein Käfer sein? Was für Uhren schlagen dreizehn? Wo beginnt das Leben des Käpt'n Blaubär? Warum hat Stille drei Stimmen?


Um solche Fragen zu stellen, hilft es, Ungewöhnliches einzubauen (die Normalität der Dursleys). Wenn man noch weitergehen will, behandelt man sogar Unmögliches (die Verwandlung in einen Käfer oder die Uhren mit den dreizehn Schlägen). Und auch Widersprüche laden zum Nachdenken ein (die stimmhafte Stille).


Atmosphäre und Konflikte


Wirklich denkwürdige erste Sätze gibt es natürlich nicht wie Sand am Meer. Sie sind eine Kunst für sich. Auch wenn ihr nicht vorhabt, den nächsten Klassiker der Weltliteratur zu schreiben, hilft es, sich Gedanken zu machen, welche spannenden Fragen ein Anfang stellen könnte. Die müssen sich nicht unbedingt im ersten Satz verbergen. Es ist in Ordnung, sich einen Absatz Zeit zu nehmen (aber jetzt nicht unbedingt fünf Absätze oder mehr, da wird es dann schon zu viel).


Gut ist es ebenfalls immer, am Anfang die Atmosphäre, die auch der Roman vermittelt, rüberzubringen. Dazu lest ihr hier mehr: https://www.kornelia-schmid.de/post/wie-erzeugt-man-in-romanen-atmosphaere. Mit "Atmosphäre" meine ich nun an dieser Stelle keine ewiglangen Wetterbeschreibungen, aber vielleicht ein paar wohlplatzierte Bilder. Und dann sollte natürlich noch etwas passieren, das nichts mit dem Alltag zu tun hat.


Erste Szenen Szeneneinstieg in eine Szene einsteigen

Im ersten Kapitel von "Das Licht aus dem Nebel" gibt es einen Angriff mysteriöser Lichtwesen bei einer Bestattung. Was es mit diesen auf sich hat, ist auch die Frage, die sich durch das Buch zieht. Im ersten Kapitel von "Das Licht im Sand" passiert ein Überfall einer fremden Macht auf eine Stadt und leitet so das Krieggeschehen ein, das den Roman prägt. Und "Das Licht hinter dem Wind" startet mit einer Stimme aus dem Nichts und schlägt damit den Bogen zurück zu den Lichtwesen aus Band 1. Gerade der erste Band hatte viele unterschiedliche Anfänge, die ich immer wieder getauscht und umgeschrieben habe, bis ich mich schließlich für diesen entschieden habe. Und ich denke, er ist atmosphärisch, düster und dynamisch wie auch das Buch.


Braucht es einen Prolog?


Prologe – ja oder nein? Ich habe schon oft welche geschrieben und am Ende doch wieder aus dem Manuskript geworden. Die Frage, ob es einen Prolog in Fantasy bzw. High Fantasy Romanen braucht, ist definitiv mit nein zu beantworten. Oft sind Prologe unnötig und ziehen den Text nur in die Länge, ohne etwas Wesentliches beizutragen. Das gilt aber natürlich nicht immer. Manchmal gibt es auch Prologe, die richtig gut erzählt sind. Es bietet sich auch an, in einem Prolog etwas aus einer Figurenperspektive zu erzählen, die man ansonsten im Roman nicht verwendet.


Wichtig ist dabei nur, sich zu fragen, ob der Prolog dem Text dient oder ob er ihm schadet. Aber das gilt beim Schreiben ja immer. Ich würde also sagen: Vorsicht damit, aber wenn ihr gute Argumente dafür habt, dann haut rein.

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